Nerve Filmkritik — Rasant im Neonlicht

  

Die Regisseure Ariel Schulman und Henry Joost haben eine Sache verstanden: die Zeiten haben sich geändert und der Rhythmus des Alltags ist ein neuer geworden. Die Uhren sind nicht stehen geblieben und das Leben eines Teenagers sieht heute anders aus, ist aber kaum weniger normal als zu unserer Zeit. Will man ein Publikum in dieser Altersgruppe ansprechen, muss man ihre Art verstehen und ihre Sprache sprechen; ohne zu verurteilen. In "Nerve" scheint dies gelungen, wenn auch recht oberflächlich und wenig subtil.

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Nur ein Steinwurf

Obwohl der Cyber-Thriller im Jahr 2020 spielt, könnte er genauso gut übermorgen Realität werden. Ein "Wahrheit oder Pflicht"-Spiel auf dem Smartphone, das den Teil mit der Wahrheit einfach auslässt und direkt zum Wesentlichen kommt, scheint zum Greifen nahe. Der Sprung von "Pokémon Go" zu dieser Adrenalinspritze ist ein kleiner und ich zweifel nicht daran, dass viele Teilnehmer damit angelockt werden könnten; schaut euch nur mal einige Videos auf Youtube an.

In diesem Machwerk folgen wir zwei Spielern, die die Herausforderung von "Nerve" angenommen haben und immer schwierigere und gefährlichere Aufgaben meistern müssen, die die Zuschauer an ihrem mobilen Endgeräten bestimmen und dann live verfolgen können. In welche Richtung das geht, könnt ihr euch sicherlich denken. Wenig subtil wird hier eine klare Botschaft gesendet und warnend, aber nie von oben herab, der Zeigefinger gehoben. Datensicherheit, Gruppenzwang und der soziale Aufbau im Leben eines Teenagers. All das wird aufbereitet. Nicht sonderlich originell aber sicherlich besser, als manch ein Film wie "#Zeitgeist" oder "Disconnect" es umgesetzt haben.

Was der Film abseits davon mit einer recht platten und teilweise auch lieblos erzählten Geschichte kaputt macht, gleicht er durch interessante Kamerafahrten und ein gewisses Gefühl für Bilder wieder aus. New York präsentiert sich im verführerischen Neonlicht und mit rasanten Szenen. Selten sah die Stadt so lebendig und gleichzeitig trostlos kalt aus. Ein Kontrast, der "Nerve" einen gewissen Charme verleiht. Ein Charme, den man jedoch nur optisch einfangen kann. Der Nervenkitzel des Gezeigten wird zu schnell abgegessen und kratzt lediglich an der Oberfläche. Ein tieferer Sinn wird vielleicht vermittelt, aber eher mit dem Holzhammer auf den Kopf.

Ähnlich sieht es bei den Charakteren aus. Hauptfiguren Vee (Emma Roberts) und Ian (Dave Franco) sind recht vielschichtig und der Aufbau einer romantischen Liebelei zwischen den beiden wird sogar relativ glaubwürdig ausgearbeitet. Bei allen anderen Auftritten greift man jedoch voll in die Klischeeschublade und präsentiert eine ausgelutschte Persönlichkeit nach der anderen. Oberflächlich, uninteressant und auf ein einziges Charakterdetail reduziert. Das tut nicht sonderlich weh, da das Augenmerk voll und ganz auf dem Spiel und den beiden Protagonisten ruht, aber ärgern tut es mich schon. So etwas ist schlampig und wäre mit etwas mehr Mühe aus der Welt geschaffen gewesen.

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Technodisko

Sei es drum. Handlungsbasierende Logik und Charakterzeichnung müssen nicht immer die Trägersäulen eines Films sein und in "Nerve" haben wir einen solchen Fall. Der aktuelle Social-Media-Zeitgeist wird gut getroffen und dürfte einem Publikum in entsprechender Altersgruppe gefallen. Gerade das hypermoderne Erscheinungsbild dieses Machwerks biedert sich der jüngeren Generation förmlich an und kann auch für andere Semester einen gewissen Reiz bieten. Man darf halt nur nicht zu viel von einem Film erwarten, der auf der einen Seite versucht, so realistisch und nah am Heute zu sein, wie nur möglich und zum Ende hin auf eine Achterbahnfahrt voll irrwitziger Wendungen geht.

Kann man damit leben, so bietet sich einem die Gelegenheit, entspannt im Kino den Kopf auf Autopilot zu stellen und einer höchst rasanten Geschichte zu folgen, die quasi keinerlei Leerläufe hat und sich zu keinem Zeitpunkt in die Länge zieht. Es fängt stockend an, nimmt schnell Fahrt auf und ist schneller vorbei als man glauben möchte. Kaum hat es angefangen, da folgt auch schon der Abspann. Das macht "Nerve" zu dem jugendlichen Liebhaber unter den Kinofilmen. Er weiß nicht was er tut, aber er macht es für eineinhalb Stunden und stellt sich dabei gar nicht so blöd an.

Mit etwas mehr Zeit und Erfahrung hätte mit diesem Film der Grundstein gelegt werden können, um moderne Techno-Thriller zu schaffen, die Potenzial für die Geschichtsbücher haben. Was fehlt ist der Mut, tiefer zu graben und die Komplexität der heutigen Jugendbewegung und ihrer Spielsachen bestimmter ins Auge zu fassen. Man braucht mehr, als nur einen Spiegel, der die Welt einer Generation zeigt. Das kann jeder durchschnittliche Krimi, dessen Drehbuchautoren und Produzenten noch nicht mit einem Champagnerglas in der Hand vor dem Kamin sitzen und sich über Käse aus Frankreich unterhalten.

Man braucht Verständnis und Empathie für ein Lebensgefühl und die Vernunft, Jugendliche als intelligente Menschen zu sehen, die einer komplexen Handlung durchaus folgen können und nicht alle drei Sekunden mit billigen Lockmitteln geködert werden müssen. Das ist die härteste Negativkritik, die ich "Nerve" vorwerfen mag. Man hat sich über die gesamte Länge hin zu wenig Mühe gegeben. Doch gleichzeitig rechne ich dieser Produktion durchaus hoch an, dass sie mehr von der Materie versteht, als so viele andere Filme aus Hollywood dieser Tage.

Fazit

"Nerve" ist ein schön in Szene gesetzter Cyber-Thriller, der den Zeitgeist der Social-Media-Kultur ausreichend versteht. Aus diesem Wissen macht er nur leider nicht viel und setzt daher auf eine oberflächlich erzählte Geschichte, die im rasanten Tempo erzählt wird und sich kaum Zeit nimmt mehr zu sein, als ein Anbiederungsversuch an eine ganze Generation. Es ist ein Film der Kontraste, denn so viel wie er gut macht, macht er an anderer Stelle falsch. Das beginnt mit seinen Hauptfiguren, die fein ausgearbeitet wurden, jedoch leblosen Nebenfiguren ausgeliefert sind und endet mit der Realitätsnähe, die zum Ende hin purem Wahnwitz weichen muss.

Unterm Strich hatte ich aber durchaus meinen Spaß mit dem Film, denn so wie er sich kaum mit etwas Tiefsinnigkeit oder einem subtilen Erzählstil aufhält, so verfällt er gleichzeitig nicht in langatmige Dialoge oder Szenen, die sich endlos in die Länge zu dehnen scheinen. Man kommt schnell zum Punkt und für das, was man erwarten durfte, wird man ausreichend bespaßt. Es ist aber auch traurig, denn dieser Thriller hatte mehr Potenzial als genutzt wurde. Hier fehlt die Zuversicht, dass Jugendliche als Zielpublikum nicht bedeuten, man darf nicht zu tiefsinnig oder komplex werden.

Bewertung: 3/5***

Filmkritik von Heiner "Gumpi" Gumprecht, 01.09.2016