„Coco — Lebendiger als das Leben!“ Filmkritik — Wo die Toten tanzen

  

Dies ist ohne Frage kein typischer Disney/Pixar-Film. Es ist viel eher der Abstand zur reinen Unterhaltung - die Hand der Tiefe menschlicher Abgründe und Komplexität entgegen streckend. Mit „Coco“ soll Groß und Klein gleichermaßen unterhalten, aber auch lehrreich geprägt werden. Billige Lacher weichen gesellschaftlicher Kritik im kindlichen Gewand und purer Augenschmauß wird durch sensible Thematik wie tiefschürfende Existenzhinterfragung erweitert.

Dadurch ist der neue Film des berühmten Animationsstudios näher an der Realität als je zuvor und das trotz fantastischer Abstecher ins Land der Toten. Hier wird der kindgerechte Zugang zu komplexen Themen ermöglicht, wie es kaum einem anderen Film zuvor gelungen ist. Die Figuren sind aus dem Leben gegriffen, ihr Ängste, Sorgen, Wünsche und Begehren so nah an unseren, dass die Sichtung fast schon wehmütig macht.

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Aber ...

Dass bei einem solchen Unterfangen, wie der hier beschriebene Kurswechsel, Opfer gebracht werden müssen, ist so fest in Stein gemeißelt wie die Wahrheit über den Drahtseilakt, den ein solches Projekt darstellt. Und tatsächlich — so schön dieses Werk der Regisseure Lee Unkrich („Arlo & Spot“, „Toy Story 3“, „Findet Nemo“) und Adrian Molina auch sein mag, einige tragende Säulen dieses Bauwerks sind polternd in sich zusammengestürzt.

So reiht sich „Coco“ zwar überall dort ein, wo sensible Themen und das Augenzwinkern gegenüber schwer verdaulichen Themen gern gesehen wird, versagt dabei gleichzeitig jedoch in dem Versuch, den komödiantischen Anteil entsprechend in Szene zu setzen. Gleichsam steht das rührselige Ende mit einem psychologisch unerwartet infantilen Finale Hand in Hand auf der Leinwand und büßt dadurch seinen größten Faktor schlussendlich auch wieder ein: die Nähe zum echten Leben.

„Coco“ erzählt von einem durchaus spannenden wie lehrreichen Abenteuer, übersteigt bei diesem Versuch jedoch niemals gewisse Grenzwerte. So funktioniert der Film zwar per se auf vielen Ebenen, scheitert bei seinem Versuch allem Gerecht zu werden jedoch an der richtigen Mischung. Wo vergleichbare Projekte mit besonderen Höhen auftrumpfen können, weist Pixars neues Werk vor allem ungewöhnliche Richtungswechsel vom zuvor jahrelang eingeschlagenen Kurs auf.

Das angesprochene Publikum wird deutlich in zwei Lager gespalten: Kinder und Erwachsene. Überspringt dabei bewusst den Jugendteil dazwischen und konzentriert sich darauf, einen Familienfilm zu gestalten, der für beide gleichermaßen wie voneinander losgelöst funktioniert. Doch für einen Kinderfilm gibt es einfach zu wenig Mut zur albernen Selbstdarstellung und dem bewussten Übertreten gewisser 08/15-Richtlinien.

Nicht, dass Disneys Film nicht Punkte dafür verdient hätte, wie leichtfüßig, fast schon im Querschnitt zum Zynismus alberne Weise hier schwere Themen angenehm humorvoll verarbeitet werden. Doch dies ist nur ein Gewürz im großen Topf und auch wenn man es mit feinem Gaumen schmecken kann, so durchtränkt es dennoch lediglich in kleinen Mengen das Große und Ganze.

Für ein älteres Publikum ist „Coco — Lebendiger als das Leben!“ hingegen deutlich zu unausgereift und unsicher in dessen, was hier thematisiert wird. Was die reine Geschichte und ihren Erzählstil angeht, haben wir also in allen Belangen ein hochwertiges, wenn auch gleichgültig wirkendes Gebilde. In keinem Belang schlecht, doch auch der Meister keiner Klassen.

Technisch brillant

Was die visuelle Umsetzung ihrer Filme angeht, stehen Pixar ja sowieso über jeglicher Kritik, schweben quasi erhaben darüber hinweg. In „Coco“ ist dies nicht anders im herkömmlichen Sinne, sondern noch viel besser. Die Welt, ihre Hülle und Fülle, wurde so beeindruckend real, menschlich, warm und versiert umgesetzt, dass die Grenze zwischen Sein und Schein immer wieder zu verwischen drohen.

Über Pixars Stil Menschen und Tiere darzustellen, kann man Diskussionen noch und nöcher starten — wenn man denn will. Was die Liebe zum Detail und den ungeheuren Grad an Realismus angeht, kann dieser Animationsschmiede jedoch keiner das Wasser reichen. Und das hat sich seit „Coco“ ganz sicher nicht geändert, so viel kann euch verraten werden.

Über die Persönlichkeit der dargestellten Charaktere kann sich ebenfalls nur aus einer Richtung beschwert werden. Und zwar dann, wenn es um die richtige Chemie zwischen den Figuren geht. Um die Situationskomik, die sich von rein albernen Szenen loslösen kann und für sich alleine genug Potenzial mitbringt, um das Leben selbst einmal witzig sein zu lassen. Hier ist leider alles hauptsächlich bedrückend und überdramaturgisch rührselig.

Was die angebotene Farbtiefe der menschlichen Parts nicht minder fantastisch/lobenswert macht. Doch greift hier erneut, was auch schon weiter oben im Text angeprangert wurde: Für das richtige Spiel mit kindlichem Humor ist dieser Film deutlich zu erwachsen, für ältere Semester nicht konsequent genug in der Gestaltung. Das gilt für die Handlung genauso wie hier relevant für die Persönlichkeit der Handlungsträger.

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Leih mir deine Stimme

Die Synchronstimmen im Original sind von jeglicher Kritik unangetastet. Zumindest im negativen Sinne. Die angeschlagene Musik mag nicht jedermanns Falls sein, über die Arbeit der Sprecher und der technischen Perfektion der Musikakte lässt sich jedoch nur schwerlich streiten. Was die deutsche Synchronisation angeht, sieht das Ganze schon etwas anders aus. Gerade die musikalischen Einlagen wirken hier etwas schwungloser, mit weniger Pepp versehen. Die Stimmen an sich sind zwar gut gewählt, haben jedoch öfter Tiefen, die unangenehm unmotiviert erscheinen.

Fazit

„Coco“ hat das Herz ohne Frage am rechten Platz und macht im Grunde genommen nichts radikal falsch. Es ist aber auch ein Werk, dass den perfekten Richtwert um einige Meter verfehlt, gleichsam in keinem Bereich besonders erwähnenswerte Höhen zu verzeichnen hat. Die ebenfalls fehlenden Tiefen gleichen dies zwar irgendwie wieder aus, doch schafft es Pixars neuestes Werk trotzdem nicht, mehr als nur gemütliche Abendunterhaltung für die ganze Familie zu sein. Manchmal ist das mehr als genug, in diesem Fall jedoch bedauernswert, da der Kurs im Grunde genommen mutig wie erfrischen anders war/ist, daraus aber kaum bis keinen Mehrwert ziehen kann.

"Coco" ist ab dem 30.11.2017 in unseren Kinos zu sehen.

Bewertung: 3/5***

Filmkritik von Heiner "Gumpi" Gumprecht, 01.11.2017