Filmkritik zu Diary of a Teenage Girl

  

Coming-of-Age Filme aus Sicht einer Protagonistin aus den USA gehen laufen für gewöhnlich sehr vorhersehbar ab. Die Heldin entdeckt ihre Sexualität, beginnt diese auszuleben und Katastrophe folgt auf Katastrophe: Promiskuität führt zu Schwangerschaft und Drogenkonsum und schließlich mindestens Prostitution mit oder ohne Obdachlosigkeit. Alternativ trifft sie ihre erste große Liebe, die Emotionen explodieren zusammen mit den Hormonen und alles ertrinkt in nostalgischen Lenseflares.

diary of a teenage girl szene kombi

Bild oben: Diary of a Teenage Girl - jetzt im Kino (Start am 19.11.2015)

Eine Leben ohne Überdramatisierung

Aber wie steht es um Geschichten, in denen ein Mädchen ihre Sexualität mit Begeisterung erkundet und nicht alles in Katastrophen endet? In Europa sind derartige keine Seltenheit, Deutschlands schwächelnden Filmlandschaft bildet mit „Nach Fünf im Urwald“ und „Große Mädchen weinen nicht“ keine Ausnahme. Auch in den USA lassen sich diese Erzählungen, ohne den moralisch erhobenen Zeigefinger, finden. „Diary of a Teenage Girl“ von Regie-Neuling und Drehbuchautorin Marielle Heller basiert auf der gleichnamigen Grafic Novel von Phoebe Gloeckner und ist eine dieser Geschichten. Es ist ein erfrischender und anschaulich seltener Ansatz für das US-Kino einen Einblick in die Pubertät eines Mädchens zu gewähren. Denn sobald Minnie (Bel Powley in ihrer ersten Hauptrolle) für sich entdeckt, wie viel Spaß Sex macht, desto mehr möchte sie davon haben. Ihr Entscheidungen auf diesem Weg sind nicht immer klug, aber wer ist mit 15 schon immer klug. Ein paar sind sogar für Beteiligte strafbar, aber wen interessieren mit 15 schon Gesetze. Und ihre Partnerwahl ist mehr als nur kontrovers, aber auch das interessiert 15jährige Menschen wenig. Grade auf letzteren Punkt legte Marielle Heller besonderen Wert und das Ergebnis ist ein Film, der komplex, lustig, traurig, erschreckend, süß, verstörend und erhellend zugleich ist. Wie das Leben eben.

Im Taumel der Hormone

„Diary of a Teenage Girl“ eröffnet damit, dass Minnie mit triumphierendem Lächeln auf den Lippen durch einen Park spaziert. Ihre Stimme aus dem Off: „I had sex... Holy shit!“ Ihr Lächeln schenkt sie völlig Fremden, Leuten beim Picknick und beim Frisbee-Spiel, die ganze Welt scheint wunderbar. Ihre Welt ist das San Francisco der 70er Jahre, die Zeiten sind locker und die Stimmung ist offen und frei. Minnies Mutter (gespielt von Kirsten Wiig, die wieder einmal zeigt, dass sie einfach alles spielen kann) ist eine verbitterte Narzisstin, sie zieht ihre beiden Töchter alleine auf, sie feiert, nimmt Drogen und tollt durch eine lose Beziehung mit Monroe (Alexander Skarsgård). Minnie, die ihre Umgebung in ihr Leben absorbiert, geht das Thema Sex neugierig an und versucht Monroe davon zu überzeugen sie zu entjungfern. Was dieser nach nur sehr wenig Widerstand auch sofort tut.

Darstellung kontra Bewertung

Hier könnte es besorgten Eltern und Menschen mit immer stets starken Moralvorstellungen bereits zu viel werden. Monroe ist 30, mit der Mutter der 15jährigen Protagonistin liiert und letztere noch minderjährig. Aber wie es der Titel schon sagt, diese Geschichte wird von Minnie erzählt und hier gelten ihre Regeln, ohne feste Moralvorstellungen. Natürlich lässt sich ihr anfängliches Verhalten als plumper Versuch werten der Mutter einen auszuwischen. Ebenfalls naheliegend ist es Monroe einen Fetisch nahe der Pädophilie zu unterstellen, aber darum geht es nicht in „Diary of a Teenage Girl“ und Heller trübt durch nicht durch Moralin die eigene Narrative. Für die Geschichte ist es ausreichend, dass Monroe verdammt gut aussieht, einen heißen Oberlippenbart hat, dass Minnies Hormone rasen und das Monroe sie nicht ablehnt, als sie sich ihm nähert.

Hier macht „Diary of a Teenage Girl“ ein wichtiges, erzählerisches Statement. Es gibt einen Unterschied zwischen Filmen, die Verhalten darstellen und solchen die Verhalten bestätigen. Filmemacher geraten wegen dieser nicht immer für jeden Zuschauer offensichtlichen Trennung gerne ins Kreuzfeuer zwischen Kontroverse und Konfusion. „Wolf of Wall Street“ könnte sowohl ein extrem frauenfeindlicher Film sein, wie es einer ist, in dem Frauenfeindlichkeit durch den Protagonisten gelebt wird. „Zero Dark Thirty“ könnte ein Film sein, der Folter als probates Mittel zur Wahrheitsfindung anpreist, oder einer, der in einer Welt spielt, in der Folter als solches angesehen wird. Manche Filme wollen tatsächlich inspirierend und charakterformend sein und manche Zuschauer wollen genau dies: Der Böse gehört am Ende bestraft und die Guten müssen belohnt werden.

„Diary of a Teenage Girl“ ist keiner dieser Filme. Wäre er weniger komplex und tief, so wäre Monroe ein schmieriger Perverser ohne echte Qualitäten. Aber Alexander Skarsgård spielt Monroe als anziehenden Typen, der fast kindlich unzufrieden mit seinem Leben ist und auf diese Art an die jüngere und besser aussehende Variante von Kevin Spaceys Lester Burnham aus „American Beauty“ erinnert. Wenn er und Minnie aufeinandertreffen, dann brechen Dämme. Natürlich ist ihre Beziehung im höchsten Maße aus der Balance und Monroes Verhalten verwerflich, aber für Minnie eröffnet es eine wunderbare und neue Welt.

Diese wird von Heller und Kameramann Brandon Trost in einen hauchdünnen, goldenen Look gefasst, der ein wenig an verblassende Bilder aus einem Fotoalbum erinnert, erfüllt mit den saftigen Gelb und blassen Blautönen der 70er. Die Periode wird nicht, wie so oft fast zum filmischen Fetisch erhoben, sie wird nur angedeutet. Auch die Musik fungiert eher atmosphärische und steht einem extra komponierten Soundtrack gegenüber. Die Tracks tönen wie zufällig aus Plattenspielern, Radio und Jukeboxen und sind mehr als einmal direkt Teil der Handlung.

Ein weiteres, wichtiges Element ist Minnies künstlerische Ader. In der Vorlage verschwimmen immer wieder die Grenzen von geschriebenen Wort und Comicstrip. Minnie ist besessen von von den riesigen Amazonen aus den Comics von Aline Kominsky-Crumb und träumt davon als Riesin durch die Straßen von San Francisco hoch über den Gebäuden zu schreiten. Immer wieder erwachen aber auch im ihrem Alltag Objekte zum Leben, kleine Blumen beginnen zu blühen und tänzeln um Minnies Kopf, wenn sie glücklich ist. Ihre Zeichnungen reden mit ihr und erfüllen ihr Leben. Sie stammen aus der Feder von Sara Gunnarsdóttir und treten besonders dann in der Vordergrund, wenn Minnie Emotionen überkochen und die Sicht der Dinge neu definieren.

Fazit

„Diary of a Teenage Girl“ ist ein extrem hochwertiger und emotionaler Film, der zu fesseln weiß. Völlig abgeht ihm die moralinsaure Dramatik des Abendprogramms zwischen ARD und PRO7. In ihm wird Leben nicht bewertet, sondern dargestellt. Und dies in einer Form, die den Film zu einem großartigen Erlebnis macht — mit dem allerdings umzugehen gewusst werden will.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.****

Filmkritik von Julius, 19.11.2015