Filmkritik zu "Raum"

  

Vor 7 Jahren wurde eine junge Frau entführt. Seit diesem Tag ist sie ein Gefangene. Ihre Zelle ein karger, kleiner Raum, kaum Möbel darinnen und nach außen hin eine Gartenhütte, wie sie in vielen Vorgärten zu finden ist. Ihr Zellengenosse ist ihr kleiner Sohn. Immer wieder wird sie vergewaltigt, ihr einziger Kontakt zur normalen Welt ist ein klappriger Fernseher mit schlechtem Empfang. Und dennoch plant sie ihre Flucht, um dem Monstern zu entkommen, welches ihr und ihres Sohnes Kerkermeister ist. Für „Raum“ (OT: „Room“) ist dies nur ein grundlegender Umriss der Handlung. Für den Zuschauer eine der intensivsten, filmischen Erfahrungen der letzte Jahre.

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Das Drama "Raum" ist ab dem 17.03.2016 in den deutschen Kinos zu sehen.

Inhaltlich weniger ist mehr

„Raum“ ist auf der einen Seite ein Drama, welches mit sehr wenig Inhalt auskommt. Auf der anderen Seite ist das dabei entstehende Ergebnis extrem dicht. Die Handlung von „Raum“ basiert auf dem preisgekrönten Roman der irisch-kanadischen Autorin Emma Donoghue, die ihre Geschichte wiederum auf mehreren realen Verbrechen basieren ließ. Es ist dennoch keine einfache Erzählung von Schrecken und Terror, kein fesselndes Überlebensdrama. „Raum“ hat natürlich Eigenschaften von beidem, ist aber eine die Seele zerreißende Huldigung einer unzertrennbaren Bindung, die auch unter den unmenschlichsten Umständen zwischen einem Kind und seiner Mutter bestehen bleibt.

Warum „Raum“ Preise wie den Oscar für die beste weibliche Hauptdarstellerin und den People's Choice Award in Toronto gewonnen hat wird schnell deutlich. „Raum“ berührt seine Zuschauer mit der feinen und sehr gut verständlichen Darstellung der Kernbeziehung.

In den ersten beiden Dritteln verlässt sich „Raum“ völlig auf die glaubhafte, mütterliche und instinkthafte Verbindung zwischen den beiden zentralen Charakteren, dem Zuschauer nur als Ma und Jack bekannt. Ihre Verbindung geht so tief und ist, auf Grund der räumlichen Gegebenheiten, so eng, dass immer wieder der Eindruck auftritt, die Nabelschnur zwischen den beiden sei nie durchtrennt worden. Der Regisseur, Lenny Abrahamson, hätte kaum nach einem besseren Team als Brie Larson (die es immer wieder schafft mit ihrer rohen Ehrlichkeit Erstaunen zu erwecken) und Jacob Tremblay (ein kleines Bühnenwunder, dessen große Gabe es ist, den Eindruck zu vermitteln, er würde gar nicht schauspielern) verlangen können.

Illusionen und Realitäten

Ihre kleine Zelle, die sie sich teilen, hat ein winziges Dachfenster, welches ein wenig natürliches Eindringen in ihre Gefangenschaft gestattet. Aber Sonne, Mond und Sterne sind allesamt Jack, der selber nie die Welt da draußen gesehen hat. Dank des unablässigen Einsatzes von Ma ist er klug, voller Energie, ein gesundes Bündel an Fröhlichkeit und belesen. Er kennt seinen Riesen tötenden Namensvetter und den biblischen Samson mit seinen langen Haaren. Ihn begeistert „Dora the Explorer“. Aber dennoch ist der Raum für ihn die einzige Realität. Alles andere, Geschichten und Fernseher, sind für ihn nur Phantasie.

Für Ma liegt der komplette Fokus auf Jack. Sie ignoriert die Schmerzen eines verfaulenden Zahns, bis dieser ausfällt und zu einem der wertvollsten Besitzstücke ihres Sohns wird. Sie ist einfallsreich. In ihren Händen wird aus der Pappe einer verbrauchten Rolle Klopapier in Kombination mit Eierschalen Spielzeug. Jack ist ihr Lebensanker und der einzige Grund, warum sie weitermacht. Ohne ihn würde sie die regelmäßigen Heimsuchungen ihres Entführers, Old Nick (gespielt von Sean Bridges) nicht ertragen können. Wie ein finsterer Sankt Nikolaus kommt er in der Nacht und bringt das Lebensnotwendige. Dafür vergewaltigt er Ma, während Jack sich im Schrank verbirgt und sich schlafend stellt, obwohl die Laute ihn wachhalten. Wahrgenommen aus Jacks eingeschränkter Perspektive werden diese finsteren Momente nur noch intensiver und belastender.

Frei und doch in Gefangenschaft

Jack scheint auf der Oberfläche wie ein erstaunlich normaler 5-Jähriger zu sein. Aber nach und nach erkennt Ma, dass in ihm Neugierde aufkeimt. Old Nick jedoch wird immer gefährlicher, immer zudringlicher. Ihre einzige Hoffnung liegt jenseits des Raums. Ma beginnt einen Plan zu stricken, der sie beide befreit, bevor es zu spät ist.

Im Falle von „Raum“ ist nicht das Ergebnis dieses Plans, was zählt, sondern die Umsetzung. Denn auch jenseits des Raums erfahren wir viel über Ma und Jack. Ihr Name ist eigentlich Joy Newsome. Und in der Freiheit zu sein und wirklich frei zu sein, so merkt sie schnell, sind zwei sehr unterschiedliche Dinge. Es kostet sie viel Kraft sich an das neue Leben zu gewöhnen, in dem ihre Schutzmechanismen keine Rolle mehr zu spielen scheinen. Jack geht in dieser neuen Welt auf, sein Horizont wird weiter und weiter, sie aber verkümmert zu einem bedürftigen und reizbaren Kind.

Jack erstrahlt besonders in der Gegenwart seiner Großmutter (Joan Allen, deren Lächeln alleine schon dem letzten Drittel extrem viel Wärme verleiht). Im Zuge des Verschwindens ihrer Tochter zerbrach ihre Ehe, doch sie fand in dem gutmütigen Leo (Tom McCamus) einen neuen Mann. Beide leiten Jack vorsichtig an und ermutigen ihn in seinem Entdeckergeist. Wenn es in „Raum“ im Cast so etwas wie eine Schwachstelle gibt, dann ist diese William H. Macy. Nicht weil er schlecht spielt, sondern einzig, weil er eine zu offensichtliche Wahl für den leiblichen Vater von Ma ist, der mit ihrem Wiederauftauchen genau so wenig klar kommt, wie mit der Information plötzlich einen Enkel zu haben. In dieser Rolle hat man ihn schon allzu oft gesehen.

Fazit

Zu den besten Eigenschaften von „Raum“ gehört es, wie viel dieser extrem intime Film eigentlich aus großen und sowohl essenziellen als auch existenziellen Fragen schöpft. Was zeichnet uns als Person aus? Was brauchen wir wirklich zum Leben? Warum sind Kinder so unglaublich widerständig, selbst in den schlimmsten Umständen? Was wenn alle Sorgen verschwinden und dennoch Sorgenlosigkeit sich als Illusion erweist? Und was machen Eltern, wenn ihre Kinder sie nicht mehr brauchen? „Raum“ funktioniert mit erstaunlich wenig Mitteln auf sehr vielen Ebenen und ist eine Erfahrung, der sich niemand verweigern sollte.

Bewertung: 5 von 5 Sternen.*****

Filmkritik von Julius, 16.03.2016