Filmkritik zu Tangerine

  

„Tangerine“ ist eine Tragik-Komödie über eine Transgender Prostituierte, die am Weihnachtsabend die Freundin ihres Zuhälters sucht. Die komplette Handlung aber wurde mit der Kamera eines iPhones geschossen. Was klingt, wie die Beschreibung eines parodistischen Filmfestivals, oder besser noch, eines fiktiven Filmfestivals in einer Parodie über Filmschaffende, ist ein echter Film. Geschrieben wurde „Tangerine“ von Sean Baker und Chris Bergoch. Baker selber nahm auf dem Regiestuhl Platz. Und das Ergebnis ist ein unglaublich liebenswerter, im wahrsten Sinne des Wortes ein Film, der das Label „independent“ jede Sekunde in Handlung und Stil unprätentiös für sich verbuchen kann.

Tangerine-szene

Kino aus dem iPhone

Die Heldin von „Tangerine“ ist Sin-Dee Rella (Kitana Kiki Rodriguez). Sie kommt eben erst nach 6 Wochen aus dem Gefängnis, da erfährt sie von ihrer besten Freundin Alexandra (Mya Taylor), dass der Zuhälter, mit dem sie ein Verhältnis hat, sie betrügt. Obendrein mit einer cisgender (also so geborenen) Frau. Dieser Betrug wird in der Eröffnungssequenz in Form eines Gesprächs nahe dem Schaufenster eines Kaffeeladens enthüllt. Die Szene dauert mehrere Minuten an und wird komplett von der Energie und dem Humor der Laiendarsteller, sowie Bakers und Radium Chengs innovativer Kameraführung getragen. Letztere zeichnet sich besonders dadurch aus, dass auf dem iPhone ein Anamorphic Widescreen Attachment installiert wurde und die Farben extrem übersättigt sind. Sin-Dee und Alexandra könnten genau so gut Charaktere aus einem alten Technicolor Musical sein. Alles wirkt avantgardistisch und hochglänzend zu gleich. Zwei Adjektive, die man selten im gleichen Satz findet, möchte man einen optischen Stil beschreiben.

In Folge der Enthüllung aber steigert sich Sin-Dee in mürrische Wut und stapft durch die Nachbarschaft. Die erste Hälfte des Films sucht sie nach der Konkurrentin, Dinah (Mickey O'Hagan), deren blonde Hellhäutigkeit und fast schon göttlicher Körperbau sich zu einer Art doppelten Beleidigung für Sin-Dee erheben. In der zweiten Hälfte macht sich Sin-Dee auf die Such nach ihrem Zuhälter Chester (James Ransome, alias Ziggy aus HBOs „The Wire“).

Der Weg, die förmliche Odyssee, die Sin-Dee Tour durch Hollywood bildet, liefert den Hauptteil der Handlung. Allerdings mischen sich ein paar parallele Ereignisse unter. So versucht Alexandra alle möglichen Charaktere zu ihrem Auftritt am selben Abend in einem Nachtclub zu lotsen. Jeder erhält von ihr Karten, so sie nicht grade die Haupthandlung in Form der tobenden Sin-Dee in den Weg stellt.

Ein weiterer Nebenstrang dreht sich um einen armenischen Taxifahrer namens Razmik (Karren Karagulian). Er ist zwar verheiratet, hat aber neben Frau und Kind ein Faible für transgender Prostituierte. Dabei hat er mittlerweile eine sehr spezifische Vorstellung entwickelt, wie diese sein müssen. In einer der enthüllenderen Szenen (in jedem Sinne) von „Tangerine“ trifft er sich mit einer Prostituierten, die genau seinem Geschmack zu entsprechen scheint. Als er allerdings entdecken muss, dass ihre Anatomie tatsächlich weiblich ist, verlangt er wutentbrannt, dass sie sein Taxi verlässt.

Lebendiges Kino mit Ecken und Kanten

Diese eine Szene sagt sehr viel, wenn nicht alles, über „Tangerine“ aus. Der Film führt in eine Welt ein, in der die Definitionen von „normal“ und „akzeptiert“ andere sind, als vieler Menschen (und insbesondere Hollywoods) Alltag zulässt. Dieser Abstand zu dem, was wir normalerweise auf der Leinwand erleben, macht „Tangerine“ zu einem um so mehr fesselnden Erlebnis. Die Originalität aber dehnt sich in „Tangerine“ auch auf das Setting und die Art der Präsentation aus. Weite Teile des Films bestehen aus Aufnahmen von Menschen, die gehen und gehen und gehen um irgendwo in Los Angeles hinzukommen, bisweilen nach dem sie lange auf einen Bus warteten, der einfach nicht erscheinen will. Oder sie davor ein Taxi nahmen, weil sie zu betrunken waren um das eigene Auto zu führen oder gar kein Auto besitzen oder besitzen dürfen. Allein letzteres ist schon selten in einem us-amerikanischen Film, der in Los Angeles spielt: Menschen, die kein Auto haben. Im Sinne des Films nur ein sehr kleiner Punkt, aber allein diese feine Note macht schon den Abstand zum Mainstream deutlich.

Nichts von alledem will andeuten, dass „Tangerine“ ein makelloses Meisterwerk ist. Auf der Seite der Nachteile wirkt „Tangerine“ an ein paar Stellen, trotz der relativ kurzen Dauer, aufgeblasen. Manche Dialoge wirken arg improvisiert (ganz im Gegensatz zum letztjährigen deutschen Indiefilm „Victoria"), selbst wenn sie geschrieben wurden. Das Ende lässt auf seine Zielsetzung hin beinahe den Film implodieren und manche Handlungselemente scheinen nicht ordentlich zueinander hinführen zu wollen. So entsteht bisweilen der Eindruck von erzwungener Kohärenz in einem sehr lose voneinander existierenden Film.

Schattenseiten

Andere Aspekte des Films lassen sich durchaus als problematisch in der Art der Inszenierung bezeichnen. Wenn Sin-Dee sich an Dinah rächt, dann hält sie, zerrt sie, schlägt sie immer wieder über den Verlauf mehrerer Szenen. „Tangerine“ stellt dies als hochkomisch dar und scheint vom Zuschauer zu erwarten das genau so zu sehen. Oder schlimmer noch, uns sagen zu wollen „So geht das halt.“ Auch wenn dies eventuell tatsächlich eine korrekte Beobachtung sein könnte und die gewalttätigen Momente später wieder zwischen Dinah und Sin-Dee aufgefangen werden, so bleibt durch sie ein bitterer Geschmack im Mund zurück. Ein typischer Fall davon, dass das Problem nicht darin liegt, dass etwas dargestellt wird, sondern wie es dargestellt wird.

Natürlich lässt sich darüber kritisieren, dass „Tangerine“ nur ein weiterer Film wäre, in dem mal wie Transgendercharaktere als Prostituierte dargestellt werden. Aber für einen us-amerikanischen Film ist die Art, wie „Tangerine“ seine Charaktere zeigt schon ein sehr weiter Sprung nach vorne. Kinostart ist am 07. Juli 2016.

Fazit

Auch wenn „Tangerine“ weit davon entfernt ist perfekt zu sein, so ist der Film doch eines dieser wunderschönen ungeschliffenen Juwelen. Die Optik ist einmalig, die Simplizität bestechend und die Darsteller spielen voller Energie und Freude Charaktere, die schon existiert zu haben scheinen, bevor die erste Szene einsetze und noch lange nachdem sich der Vorhang schließt.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.****

Filmkritik von Julius, 31.03.2016