Filmkritik zu "Victoria"

  

Deutschen Filmemacher, zumindest solange sie in Deutschland wirken, wird oftmals mangelnder Mut und wenig Kreativität unterstellt. Zudem haftet dem deutschen Film an, er sei zu glatt, zu wenig bereit Grenzen zu überschreiten und wirklich neues zu wagen. Auf die breite Masse gesehen mag dieser Vorwurf sogar berechtigt sein. Allerdings profitiert der deutsche Film, genau wie der aus anderen europäischen Ländern noch immer, glücklicherweise, von Filmförderungen. Mittels dieser ist es immer wieder möglich auch Projekte zu realisieren, die aus jener breiten Masse hervorstechen. Ob dies auch in Zukunft weiterhin möglich sein wird, steht auf einem anderen Blatt. Strenggenommen könnten eine derartige Unterstützung, wie in den letzten Wochen mehrfach in der Presse zu lesen war, ab TIPP aus Gründen der Wettbewerbsverzerrung der Vergangenheit angehören.

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In der Hitze der Nacht

Was auch immer das Handelsabkommen bringen wird, noch ist dies düstere Zukunftsmusik. Auf der vergangenen Berlinale und in Bälde endlich in den Kinosälen jedenfalls konnte „Victoria“ genau jenen Hang zur oft vermissten Kreativität deutlich zeigen. Ein der Besonderheiten des Films von Sebastian Schipper (Absolute Giganten, Ein Freund von mir) ist, dass er aus einer einzigen Plansequenz besteht. Für diejenigen, die kein Filmlatein sprechen: er wurde in einem Durchgang abgedreht. Natürlich hat diese Idee Schipper nicht erfeunden. Schon Alfred Hitchcock hat dies in „Cocktail für eine Leiche“ getan und erst zu diesen Oscars haben wir in Alejandro Inarritus „Birdman“ ähnlich angelegte Sequenzen gesehen. In „Victoria“ aber kommt die Arbeit von Kameramann Sturla Brandth Grøven (I Am Here) vollständig ohne Computertricks aus. Über die gesamte Laufzeit von 140 Minuten und 22 unterschiedliche Drehorte, alle mit anderer Beleuchtung, keine fest eingeplante Dialoge oder akkurate Szenenvorbereitung fängt Grøven jeden Moment mit einer HD Kamera auf. Ohne das geringe Gewicht heutiger Kameras wäre dies natürlich nicht möglich gewesen. Aber durch diese absichtlich und gezwungener Maßen „unsaubere“ Arbeit entsteht ein wunderschöner Kontrast zu dem oft zu glatten deutschen Filmen. „Victoria“ ist einfach angenehm anders. Zusätzlich geht dem Film aber auch dies künstlerische Abgehobenheit ab, die derartigen Filmen schnell anhaften. Im Rausch der rasanten Handlung um eine einzige Nacht in Berlin entspinnt sich eine mitreißende Geschichte um neue Freunde, zwangloses Feiern bis hin zur kriminellen Eskalation.

Schipper und sein Team an jungen Darstellern haben über drei Monate dieses kleine Meisterwerk geprobt. Drei Durchgänge wurden abgedreht. Der eigentliche Film entspricht dabei dem letzten Ablauf. Alle Dialoge und viele Abläufe der einzelnen Szenen sind improvisiert und hatten kein wirklich festes Script. Das Ergebnis sind natürliche Gespräche mit echtem Inhalt, gepaart mit einer stetig in Bewegung befindlichen Kamera und dem Gefühl, sich als Zuschauer mal wie ein heimlicher Beobachter, mal wie ein zufällig Beistehender immer nahe am Geschehen zu befinden.

Durch die Nacht mit Victoria

Zentrum der rauschhaften Handlung ist die junge Spanierin Victoria (Laia Costa). Sie ist neu in Berlin und kennt sich in der Hauptstadt nicht wirklich aus. Nachdem sie die Nacht in einem Club durchgefeiert hat, trifft sie auf vier echte Berliner Jungs, mit denen sie eigentlich nur noch ein Bier trinken und den Sonnenaufgang erleben will. Doch einer der vier, Boxer (Franz Rogowski) schuldet dem schwerkriminellen Andi (André Hennicke) einen mächtigen Gefallen. Noch schwer von der durchzechten Nacht angeschlagen sollen die Jungs dem Gangster bei einem Bankraub unter die Arme greifen. Wirklich fahrtüchtig ist keiner mehr — außer Victoria. Und dann beginnt die fröhliche Nacht völlig aus dem Ruder zu laufen.

Laia Costa spielt dabei in „Victoria“ als Victoria nicht nur die Hauptrolle. Sie dient auch, bis auf wenige Ausnahmen, als Leitfigur für Kamera und Publikum. Die Behauptung sie als Herz und Seele des Films zu bezeichnen liegt nicht fern.

Aber auch Frederick Lau (Die Welle) als Anführer Sonne und Franz Rogowski (Love Steaks) als Boxer müssen sich nicht verstecken. Ersterer lässt erneut eine Mischung aus jugendlicher Überheblichkeit nahe der Großmäuligkeit, gepaart mit mangelndem Überblick spielen, während letzterer seine Erfahrungen in Sachen Improvisation voll zur Geltung bringen kann. Und diese ist in „Victoria“ auch wirklich wichtig, denn besonders die improvisierten Dialoge und die nicht festgelegten Bewegungsabläufe verleihen eine sehr hohe Natürlichkeit, die sich weit weg von der bei derartig künstlerischen Filmen oft vorherrschenden Affektiertheit befindet. Regisseur Schipper ist seine eigene schauspielerischen Erfahrunge bei der Auswahl seiner Darsteller deutlich und im positiven Sinne anzumerken.

Die Ereignisse um die fünf „Helden“ werden, wie auch anders möglich, in Echtzeit erzählt. „Victoria“ taumelt irgendwo zwischen einer leichten Romanze, einem rasanten Thriller, in dem die Charaktere die Kontrolle über die Ereignisse zu verlieren drohen und einem Porträt über Schippers Wahlheimat Berlin entlang. Auf Grund der besonderen Dynamik des Filmes wirkt „Victoria“ in keinem Moment langweilig, sonder zieht den Zuschauer in einen rauschhaften Bann. Es ist eben genau kein „typisch“ deutscher Film, der nur für absolute Filmnerds und Kritiker gedreht wurde, sondern einer, dem auch der „normale“ Kinogänger einiges abgewinnen kann.

Fazit

Prädikat absolut empfehlenswert. Am Besten für einen Freitag oder Samstag Abend. Es könnte nach der ersten Hälfte das zwingende Bedürfnis aufkommen, die Nacht durchzumachen. Nur bitte keine Banken überfallen im Anschluss. Falls sich das nicht vermeiden lässt, weil dringend 50.000 Euro beschafft werden müssen, dann ist „Victoria“ unter keinsten Umständen als Beispiel zu nehmen. Mit einem Film wie „Victoria“ im Hinterkopf wollen wir hoffen, dass Filmförderung so schnell nicht aussterben oder gar abgeschafft wird.

Bewertung: 5 von 5 Sternen (!!) *****

Filmkritik von Julius, 08.05.2015

Kinostart am 11.06.2015

Victoria läuft am 11.06.2015 in den deutschen Kinos an. Beachtet auch unseren Datenbankeintrag zum Film, um mehr Bilder, das Poster und den Trailer anzuschauen und mehr Informationen zum Film zu erhalten. (RB)