High-Rise - unsere Filmkritik zum Drama

  

Schon zu seinen Lebzeiten galten die Texte des 2009 verstorbenen Kultautors James G. Ballard als eigenwillig und facettenreich. Filmisch traute sich bisher kaum jemand an sie heran. Einzig wenige, mutige Filmemacher wagten diesen Schritt. Während David Cronenberg „Crash“ und Steven Spielberg „Das Reich der Sonne“ verfilmte, galt Ballards Magnum opus „High-Rise“ als schlichtweg unverfilmbar. Obwohl Produzent Jeremy Thomas („Der letzte Kaiser“) die Filmrechte bereits 1975 zur Erstveröffentlichung der dystopischen Klassenkampf-Arie erwarb, vergingen 40 Jahre, bis es tatsächlich auf der Leinwand erscheinen sollte.

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Ab dem 30. Juni könnt ihr High-Rise in den Kinos sehen.

Filmemacher Ben Wheatley liefert „High-Rise“

Das jetzige Ergebnis war jedoch nicht der einzige Anlauf. Über die Jahre bissen sich unter anderem Nicolas Roeg („Wenn die Gondeln Trauer tragen“) und Vincenzo Natali („Cube“) an „High-Rise“ die Zähne aus. Schlussendlich traute sich der kompromisslose britische Indie-Filmemacher Ben Wheatley („Kill List“, „A Field In England“) „High Rise“ heran. Und es funktioniert, jedoch teilweise anders als gedacht: Wheatley kreiert brillante Szenen in einer phantastischen, morbiden Atmosphäre im Stile einer Zukunftsvision aus der Vergangenheit. Doch genau diese entgleitet ihm mehr und mehr. Die finster-komödiantische Gesellschaftssatire läuft aus dem Ruder. Ganz wie das Geschehen auf der Leinwand rutscht auch der Film „High-Rise“ analog in pure Anarchie ab.

In einem fiktiven London des Jahres 1975 versucht sich der begehrte Junggeselle Dr. Robert Laing (Tom Hiddleston) mit einem Neuanfang und mietet sich in dem futuristischsten Gebäude der Stadt ein: ein Highend-Hochhaus mit einer eigenen autarken Infrastruktur, die das Verlassen des High-Tech-Resorts so gut wie überflüssig macht. Der Neurologe wohnt im 25. Stock. Einer Art Grenze, denn unter ihm wohnen die weniger vermögenden, über die die ultrareichen Mieter. Im majestätischen Penthouse mit seinem paradiesischen Dachgarten logieren der visionäre Schöpfer Anthony Royal (Jeremy Irons) und seine Frau Ann (Keely Hawes), weiter unten im Haus haben die weniger begüterten Mieter ihre Wohnungen, darunter der latent unzufriedene Dokumentarfilmer Wilder (Luke Evans) mit seiner hochschwangeren Frau Helen (Elizabeth Moss). Verschiedene Cliquen treffen sich auf ausschweifenden Partys mit Alkohol, Drogen und Sex. Laing beginnt eine Affäre mit der alleinstehenden Mutter Charlotte (Sienna Miller), die auch ein Kind mit Architekt Royal hat. Es rumort in den luxuriösen Eingeweiden des Gebäudes — die Unstimmigkeiten zwischen den verschiedenen Kasten nehmen zu und eine gewaltige Konfrontation zieht herauf.

Ressourcenmanagement

Ähnlich wie Bong Joon-ho in seinem Science-Fiction-Drama „Snowpiercer“, in dem ein streng nach gesellschaftlichen Klassen unterteilter Zug unaufhörlich durch eine apokalyptische Schneewüsten-Zukunft rast, nutzt auch Ben Wheatley für seine Inszenierung des Klassenkampfs in „High-Rise“ die Enge des begrenzten Raums. Nahezu alle Szenen des Films, der vor seinem regulären Kinostart in Deutschland auch bei den Fantasy Filmfest Nights 2016 zu sehen war, sind in dem futuristisch-sterilen High-Tech-Hochhaus angesiedelt, das mit seiner Struktur und seiner multifunktionalen Ausstattung eine Welt für sich darstellt. Es gibt ganze Etagen für Supermärkte, einen riesigen Wellness-Bereich inklusive großem Swimmingpool, im Penthouse-Garten reitet Herrscher-Gattin Ann mit ihren Pferden in purer Dekadenz über die malerische, gigantische Dachterrasse. Der Luxus ist allerdings ungleich verteilt: Die Wohnungsbelegung spiegelt die Bevölkerungsstruktur in der Gesellschaft wider, Wheatley und seine Stammdrehbuchautorin (und Ehefrau) Amy Jump beschwören die uralten Instinkte - das Fußvolk drängt nach oben, die hedonistische Oberschicht tritt nach unten, um Besitzstände zu wahren: Soziale Ungerechtigkeit führt in der erzählerischen Logik von Roman und Film unweigerlich zu Aufruhr, Gewaltexzessen und Chaos.

Bild-Ton-Rausch

Regisseur Ben Wheatley und Kamerafrau Laurie Rose („Kill List“) entfesseln einen brillant-düsteren Bilderrausch, der durch den suggestiv-treibenden Score von Clint Mansell („Requiem For A Dream“) kongenial verstärkt wird. Die Original-Kompositionen ergänzt er durch perfekt gewählte andere Stücke (wirklich ganz großartig ist Portisheads Coverversion des Abba-Superhits „SOS“, den Mansell zudem orchestral variiert), der Soundtrack ist im Ergebnis dabei genau so wild wie der ganze Film. Der in Bild und Ton heraufbeschworene Rausch legt sich dabei gleichsam über die filmische Erzählung. Wheatley lässt sich von Nebenfigur zu Nebenfigur, von Szene zu Szene treiben und verirrt sich dabei manchmal ein bisschen. Er beobachtet den Mikrokosmos am Rand des Abgrunds wie ein zufälliger Zaungast und ohne großes Mitgefühl. Identifikationsfiguren gibt es entsprechend keine und auch von einer Dramaturgie im klassischen Sinne lassen sich nur Spurenelemente finden. „High-Rise“ ist ein Film der Stimmungen und der Momente, der sich am besten als anarchisch-exzessive Zustandsbeschreibung genießen lässt: Hier ist die Kacke am Dampfen, aber so richtig. Der Erzählton ist satirisch, absurd, dramatisch und zeugt von Apokalypse. In Sinne einer schwarzen Komödie im Stile der 70er eigentlich mitten ins Herz getroffen.

„High-Rise“ spielt mit seiner Mischung aus 70er-Jahre-Bezügen und futuristischen Elementen gewissermaßen in einem Paralleluniversum, aber gemeint ist natürlich unsere Welt: Der durch ein von den Filmemachern eingestreutes zynisches Zitat von Margaret Thatcher untermauerte gesellschaftskritische Befund des Romans hat auch heute Gültigkeit: Das unter anderem von der „Eisernen Lady“ entfesselte Kapitalismusmonster konnte bisher nicht eingefangen werden und wer seine Hoffnung auf eine bessere Zukunft setzen möchte, ist in „High-Rise“ falsch. Konsequenterweise bleibt die Menschlichkeit vollkommen auf der Strecke: So ist auch Tom Hiddlestons suchender Dr. Robert Laing, der noch am ehesten als Hauptfigur durchgehen würde, ein eiskalter Fisch — allerdings einer mit vielen stark gespielten Facetten. Und der von Luke Evans animalisch und voller Wildheit verkörperte Wilder ist zwar die Triebfeder der Revolution, wird aber nicht von Idealen angespornt, sondern einzig durch die fehlende persönliche Perspektive. Jeremy Irons Charakter, das charismatisch-unsensibles Architekten-Mastermind Royal wiederum unterschätzt die Gesamtsituation kolossal, während Sienna Miller und Elizabeth Moss in ihren Rollen vergeblich weibliche Selbstbestimmung beanspruchen und im Schlagschatten der Revolte aufgerieben werden.

Fazit

„High-Rise“ ist ein wild-ambitionierter Style-Over-Substance-Ritt durch eine dystopische Parallelwelt, bei dem Regisseur Ben Wheatley gelegentlich aus dem Sattel fliegt. Ein provokanter, oft surreal wirkender Filmt mit ein paar unrunden Momenten.

Bewertung: 4 von 5 Sternen.****

Filmkritik von Julius, 20.05.2016