Filmkritik zu Alice im Wunderland: Hinter den Spiegeln

  

Als James Bobin, respektive Autorin Linda Woolverton, für „Alice im Wunderland: Hinter den Spiegeln“ eine inhaltliche Begründung aus dem Hut zauberten, begangen sie einen grundlegenden Fehler. Denn Carolls psychedelisches Feuerwerk der unbegrenzten Möglichkeiten mit einem drögen Zeitreiseplot und einer blassen, grauen Originstory zu versehen, verstößt massiv gegen den Geist der Vorlage. In Hinsicht auf den erst kürzlich mit Jon Faveraus „Das Dschungelbuch“ hoch angesetzten, neuen Standard für mauseigene Realverfilmungen bedeutet diese Söldnerarbeit als Fortsetzung zum Burtons extrem lukrativen „Alice im Wunderland“ einen gewaltigen Schritt zurück.

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Alice im Wunderland: Hinter den Spiegeln startet am 26. Mai in den Kinos

Erfolgreicher als Alice im Wunderland

Auch wenn es mehr als unwahrscheinlich ist, dass „Alice im Wunderland: Hinter den Spiegeln“ den Milliardenumsatz des 2010 erschienen Vorgängers übertreffen wird, so dürfte das jüngste Werk des Mäuseladens dennoch ordentlich Taler heranfahren. Und das, obwohl der Film eigentlich ziemlicher Käse ist. Doch die optische Anhäufung von schmucken Production Designs, hektischer CGI und anderer, hochglänzender Dinge dürften helfen. Aber, wie es Carroll so schön selber sagte: „Es ist eine schlechte Art der Erinnerung, die nur rückwärts funktioniert.“ Bobin ist zwar sicherlich kein Ersatz für Burton, der selbst in schwachen Momenten (wie eben in „Alice im Wunderland“) noch immer durch seinen finsteren Humor zu punkten weiß, aber wie er mit den beiden letzten „Muppets“ Verfilmungen bewiesen hat, durchaus zu anarchistischen Leistungen in der Lage. Er hat ein Gefühl für Komik und schafft es sogar das ununterbrochene Digitalspektakel „Alice im Wunderland: Hinter den Spiegeln“ zumindest visuell konsistent und kohärent zu erhalten, während er eine optische Süßigkeit nach der nächsten in die Kinoreihen pfeffert.

Dennoch fehlt es „Alice im Wunderland: Hinter den Spiegeln“ an einem sehr gewichtigen Teil einer typisch carrollschen Rezeptur: Erzählerische Vorstellungskraft. Als einfaches Beispiel dafür soll der Wahnsinn des verrückten Hutmachers herhalten. In Disneys erstem Anlauf, der Version von 1951, besteht dieser Wahnsinn a priori, also von vornherein. Genau wie sein berühmtes Rätsel „Warum ein Rabe wie ein Schreibtisch ist“ bedarf es keiner Begründung und erst recht keiner Lösung. Dennoch nimmt „Alice im Wunderland: Hinter den Spiegeln“ an, wir bräuchten auf alles eine Antwort. Somit wird ein Teil genau der Welt, die jenseits von Logik funktioniert, neu aufgerollt und mit den abgetragensten Vorlagen übertapeziert. Ironischer und paradoxerweise so, dass genau dieser Abschnitt des neuen Alice-Abenteuers schwer verständlich ist.

Und so ist der Verrückte Hutmacher, wieder von Johnny Depp mit orangenem Haar, clowneskem Makeup und hoffentlich durch psilocybinhaltige Pilz geweiteten Pupillen gespielt, der trotz des Sieges über die finstere Rote Königin Iracebeth (Helena Bonham Carter) in eine Depression verfallen ist. Ihn plagen ödipale Problemchen und der Verlust seiner Familie durch einen unglücklichen Vorfall mit einem Jabberwocky. Doch zu seiner Rettung naht: Alice Kinsleigh (Mia Wasikowska).

Zurück in die Vergangenheit

Unsere Heldin, inzwischen eine Mitzwanzigerin, kommandiert aber zunächst ihr eigenes Schiff und wird von Piraten gejagt. Und schon hier treten Verwirrungen auf. Denn dank von Skateboardlegende Tony Hawk entlehnter Manöver nautischer Natur ist es ihr möglich die Piraten abzuhängen. Und es muss sich demnach eigentlich um eine pure Traumsequenz handeln. Aber der Vorgänger deutete an, dass Alice an Bord der „Wonder“ Handelsrouten nach China erschloss — nur um heim im regnerischen London einige Schwierigkeiten mit Immobilien dank ihres ehemaligen Gartenpartyverehres Hamish (Leo Bill) zu bekommen. Und auch zur düstersten Phase von „Alice im Wunderland: Hinter den Spiegeln“ wird hierauf Bezug genommen.

Glücklicherweise wird der Ausmalung der Realität dann doch nicht zu viel Platz eingeräumt und schnell schlüpft Alice durch einen Spiegel ins Wunderland. Hier trifft sie mit ihren alten Weggefährten Diedeldum & Diedeldei (Matt Lucas), dem Weiße Kaninchen McTwisp (Michael Sheen), der Die Grinsekatze Grinser (Stephen Fry) und der Weißen Königin Mirana (Anne Hathaway) zusammen. Sie alle sind in großer Sorge ob des Trübsal blasenden Hutmachers und die Weiße Königin betraut Alice mit der Mission zurück durch die Zeit zu reisen um des Hutmachers Familie zu retten.

Um sich aber von der Last der Zeiten zu lösen muss Alice zunächst eine steampunkige, gyroskopische Verrücktheit namens Chronosphere stehlen. Diese allerdings gehört Zeit höchstpersönlich (ein schnauzbärtiger Sacha Baron Cohen). Zeit bewohnt das beste unter den neuen Settings, eine titanische Uhr und trägt des schickste unter den neuen Kostümen, mitsamt einer uhrigen Brustplatte. Zeit ist eine massige Gestalt, hat im O-Ton einen schweren deutschen Akzent, kommandiert als grausamer Arbeitgeber unzählige Bronze-Stümper, die sich in schreckliche Roboter transformieren können, sobald dies notwendig erscheint (zum Glück muss dafür kein einziger Transformer auftauchen).

Inhaltlich: Ab mit dem Kopf

Zeitgleich versucht noch die verbannte Rote Königin sich ebenfalls die Chronosphere zu erquatschen, aber Alice ist mal wieder schneller und trifft auf den progressiv verjüngten Hutmacher und dessen missbilligenden Vater (Rhys Ifans) während ihrer Zeitreise. Ebenfalls in der Vergangenheit bekommen wir eine junge Rote Königin präsentiert und wir erfahren den Ursprung ihrer Boshaftigkeit, lernen woher „Ab mit dem Kopf“ stammt und warum sie einen so großen Kopf hat. Nichts davon jedoch ist den Trip wert.

Aus einer rein technischen Perspektive ist mit „Alice im Wunderland: Hinter den Spiegeln“ alles im Lot. Klar, die digitalen Effekte sind laut bisweilen obszön unerträglich, aber sie zeugen dennoch von viel Talent. Die Kostüme aus Nadel und Faden von Colleen Atwood sind wie gewohnt üppig. Die meisten Darsteller, vorne weg Hathaway als Weiße Königin machen einen guten Job. Aber, in Anbetracht der reichhaltigen Vorlagen, die Carroll liefert, muss man sich die Frage stellen, warum „Zurück in die Zukunft II“ und Burtons größer Misserfolg „Charlie und die Schokoladenfabrik“ als Inspirationen herhalten mussten.

Oder sogar Walter Murchs „Oz — Eine fantastische Welt“. Denn an dem Punkt, an dem sich „Alice im Wunderland: Hinter den Spiegeln“ am weitesten von der Tonalität des literarischen Ursprungs entfernt, erhaschen wir einen Blick auf sie, angegurtet in einer viktorianischen Irrenanstalt. Und selbst als sie entkommt, sieht sie sich mit einer sophieenhaften Entscheidung konfrontiert: Um das Haus ihrer Familie zu retten, muss sie die „Wonder“ verkaufen. „Die Wonder überzeichnen und das Unmögliche aufgeben?“ fragt sie sich selber — dabei hat dieser Kahn zu dem Zeitpunkt für „Alice im Wunderland: Hinter den Spiegeln“ längst den Anker gelichtet.

Fazit

Wer sich berieseln lassen möchte, auf poppig-bunte Farben steht und Johnny Depp in jeder Rolle erträgt, der schmeiße ein paar Pilze ein und hüpfe in den Kinosaal. Wer auf Lewis Carroll hofft und eine verrückte Geschichte erleben möchte, lasse besser die Finger von dieser verkleinernden Pille.

Bewertung: 2 von 5 Sternen.**

Filmkritik von Julius, 17.05.2016