Wie das Filmprojekt SHAME begann

SHAME wurde im Februar und März 2011 in New York gedreht. Der Film ist die zweite Zusammenarbeit von Regisseur Steve McQueen und seinem Star Michael Fassbender. McQueen zählt zu den bekanntesten Gegenwartskünstlern Großbritanniens, der für seine Videoinstallationen, mit denen er sich in den Neunzigerjahren einen Namen gemacht hatte, 1999 mit einem Turner Prize ausgezeichnet wurde. Fassbender schaffte in diesem Jahr mit Hauptrollen in „X-Men: First Class“ („X-Men: Erste Entscheidung“, 2011) und „A Dangerous Method“ („Dunkle Begierde“, 2011) den endgültigen Durchbruch. Zuvor hatten die beiden bereits mit „Hunger“ (2008) Aufsehen erregt, der 2008 bei seiner Weltpremiere in Cannes als Eröffnungsfilm der Nebenreihe „Un Certain Regard“ für Gesprächsstoff sorgte und seinem Schöpfer eine Caméra d’Or als Bester Erstlingsregisseur bescherte. „Ich war immer schon ein Künstler“, erzählt McQueen über seinen Wechsel aus dem Kunstbetrieb ins Filmgeschäft. „Ich wollte experimentieren und damit spielen, wie man eine Geschichte erzählt. Mehr gibt es nicht zu berichten. Ganz einfach. Kein besonderer Grund. Das Kino ist sehr faszinierend. Selbst mein Nachbar weiß mittlerweile, was ich tue. Bevor ich Filme gemacht habe, wusste er es nicht.“

Über seinen Ansatz als Künstler und Filmemacher sagt McQueen: „Ich bin ein Moralist, keine Frage. Sind wir das nicht alle? Machen wir nicht alle immer noch das, was wir machen? Aber ich bin ein Moralist, der reflektiert, was um ihn herum vorgeht. Ich bin kein Priester oder Heiliger. Gott bewahre. Aber als Künstler will man etwas spiegeln, das dringend und leidenschaftlich ist. Darum geht es doch im Kino, oder? Oder zumindest sollte es das. Wir verlieren das Publikum. Wenn wir Filme machen wollen, die sich die jungen Leute ansehen sollen, wenn wir wollen, dass das Kino ist wie Rock ’n’ Roll, und dennoch immer weiter Kostümdramen drehen, dann frage ich mich, was das soll. Kino muss essenziell sein, wie HBO. Kino kann eine Notwendigkeit sein, der Funke für eine Konversation. Es kann Power haben. Und das ist, was ich machen will. Das sind die Stoffe, mit denen ich mich befassen will. Die Kids werden kein Geld auf den Tisch legen, um sich einen Kostümschinken anzusehen.“

SHAME ist ein Film, der im Hier und Jetzt spielt, ein Film, der zu keiner anderen Zeit als heute spielen könnte. Die Ursprünge des Projekts liegen drei Jahre zurück. Damals traf sich Steve McQueen mit der Autorin Abi Morgan; sie waren einander bis dahin noch nie begegnet, wollten den jeweils anderen aber gerne kennenlernen. „Wir hatten uns für eine Stunde verabredet, einfach um uns ein bisschen zu unterhalten“, erinnert sich McQueen. „Daraus entwickelte sich eine hitzige dreistündige Diskussion, bei der es schließlich um das Internet ging, was es mit uns anstellt, was es uns bedeutet ... Und um Sex. Daraus entstand die Idee, von einem Mann zu erzählen, der sexsüchtig ist. Damals war das noch kein großes Thema. Mich reizte die Recherche.“ Gemeinsam flogen McQueen und Morgan in die Vereinigten Staaten. Dort unterhielten sie sich mit drei führenden Fachleuten, die insgesamt sieben Männer behandelten, die als sexsüchtig galten. Diese sieben Männer bildeten schließlich die Grundlage für die Figur Brandons. „Die Nachforschungen gingen richtig in die Tiefe“, erzählt McQueen. „Meine Güte. Während man diese Recherche betreibt, beginnt man, seine eigene Psyche zu hinterfragen, und entwickelt ein tiefes Verständnis, wie diese Menschen funktionieren. Sie begeben sich auf ,Sexkapaden‘, verbringen den gesamten Tag im Internet. Oder masturbieren oder gehen zu Prostitutierten, sie gehen sexuell die größten nur vorstellbaren Risiken ein, was immer auch nötig ist, um ihre Sucht zu befriedigen. Und was passiert danach? Am Ende ihrer ,Sexkapaden‘ steht immer grenzenlose Scham. Jeder von ihnen benutzte dieses Wort — ‚Shame‘; daraus leitete sich der Titel des Films ab. Diese Scham bekämpfen sie, indem sie sich wieder in Sex stürzen. Man muss kichern, wenn man sich einen Sexsüchtigen vorstellt. Es ist wie beim Typen von nebenan, der einen über den Durst trinkt: ,Oh, er ist lustig, wenn er trinkt, könnt ihr euch an letztes Weihnachten erinnern, hahaha.‘ Aber wenn das Trinken Oberhand gewinnt, wenn das Trinken zu einer Notwendigkeit wird, um den Tag zu überstehen, dann wird die Sache zum Problem. Und da ist Sexsucht ganz ähnlich. Ein Psychotherapeut erklärte uns: Sexsucht hat mit dem Bedürfnis nach Sex so viel zu tun wie Alkoholismus mit Durst.“

Gemeinsam begannen McQueen und Morgan mit der Arbeit am Drehbuch. „Wir haben uns im Verlauf der Reise gut angefreundet“, sagt McQueen. „Und wir waren sehr direkt. Diese Art von Ehrlichkeit ist wichtig, wenn man ein Drehbuch schreibt; sie definiert, wie man miteinander arbeitet. Es ging nicht um unser Ego, es ging um eine ehrlich aufrichtige Auseinandersetzung mit dem Stoff, mit der Geschichte und den Figuren. Wir haben viel geredet. Abi war es dann, die sich hinsetzte und unsere Überlegungen und Ideen zu Papier brachte. Sie ist die Autorin — ich kann nicht schreiben. Ich habe mir das Geschriebene später angesehen und meine Meinung gesagt. Dann hat Abi wieder geschrieben. Das Ergebnis ist eine Art Collage, die allerdings auf den Ergebnissen unserer Recherchen fußt. Ich möchte nicht über etwas schreiben, von dem ich keine Ahnung habe.“

AJ / Quelle: PROKINO