Hin und wieder zurück: Gedanken an Mittelerde (Teil 1)

  

Langsam werde ich wieder kribbelig. Ja, ich denke das ist das richtige Wort dafür, kribbelig. Am Donnerstag, den 13. Dezember dieses Jahres startet DER HOBBIT — EINE UNERWARTETE REISE in den Kinos und damit eine neue Filmtrilogie, dem das wundervolle Kinderbuch DER KLEINE HOBBIT und später einfach nur DER HOBBIT des englischen Literaturprofessors J.R.R. Tolkien zu Grunde liegt. Da ich die Arbeiten des neuseeländischen Regisseurs und Drehbuchautors Peter Jackson kenne, weiß ich, was für ein bombastisches Abenteuer mich erwarten wird.

Das große Filmprojekt DER HERR DER RINGE und ich

Ich kann mich noch genau erinnern, als ich das erste Mal hörte, dass Jackson an DER HERR DER RINGE arbeitete und hatte Hobbits mit Maschinengewehren vor Augen. Ich kannte Jacksons alte Filme wie MEET THE FEEBLES oder BAD TASTE bereits und befürchtete schon das Schlimmste. Zwar sind die Streifen für mich immer noch unterhaltsamer Kult, so wie auch der legendäre BRAINDEAD, aber damals traute ich dem ruhigen und freundlichen Mann aus "janz weit wech" noch nicht so etwas Großes wie DER HERR DER RINGE zu. Ich lag falsch und bin wirklich froh darüber. Doch das waren nicht die ersten Berührungspunkte mit Mittelerde für mich. Neben den drei Büchern gab es noch andere wundervolle Dinge, die für mich Mittelerde in der Vorstellung entstehen ließen, lange bevor die Filme überhaupt spruchreif waren. Eines davon waren die Rollenspielhefte der Firma Iron Crown Enterprises. Und es waren vor Allem diese Publikationen, die ein sehr genaues und persönliches Bild dieser wundervollen Fantasiewelt für mich prägten.

Was ist ein Rollenspiel?

Ein Rollenspiel wird oft mit spontanem Theater verglichen. Dieser Vergleich ist ein guter Ansatz, um jemanden das nerdige Hobby zu erklären. Jeder der Teilnehmer übernimmt die Rolle eines Charakters für den er spricht, plant und Handlungen beschreibt. Alles wird per Gespräch abgehandelt, sei es der wagemutige Sprung eines Weltraumnomaden über eine Schlucht oder der Überzeugungsversuch eines Langfingers im wilden Westen Whiskey spendiert zu bekommen. Doch woher wissen wir denn nun, ob unser Weltraumheld die relativ schmalle Schlucht überspringen kann? Da kommen Regeln in Spiel, die mit Attributen und Fertigkeiten der Charaktere arbeiten. Nicht jeder ist gleich stark, das ist klar. Auch kann jemand über unglaublich viel Fachwissen verfügen, während er kein Händchen im Umgang mit Anderen besitzt. Alles Dinge, die Regeln zu klären versuchen. Einer der Spieler übernimmt die wichtige Funktion des Spielleiters. Dieser beschreibt das gespielte Abenteuer, ist Regisseur, Drehbuchautor und Darsteller aller anderen Figuren, außer die der anwesenden Spieler. Doch kann diese Person nur eine grobe Richtung vorgeben. Das Abenteuer entsteht gemeinsam. Es gibt Unmengen an Spielsystemen und Hintergründen für Spielinteressierte. Das Repertoire reicht von oft verbreiteter Fantasy bis hin zum viktorianischen Horror, ähnlich der Verbrecherjagd im Film FROM HELL. Unter der Sparte Fantasy Rollenspiel gilt das M.E.R.P. System (die Abkürzung für "middle earth role playing") als Klassiker.

Trotz der Tatsache, dass meine damalige Spielgruppe andere Rollenspielsysteme bevorzugte, übten vor allem die Erweiterungsbände zu M.E.R.P. auf mich eine magische Anziehung aus. Einer dieser Spielbände blieb mir besonders in herzlicher Erinnerung. Direkt nach dem traumatisierenden Filmbesuch von DER HERR DER RINGE - DIE GEFÄHRTEN war es eben dieses dünne Spielbuch, zu dem ich direkt griff. In meiner Vorstellung ging ich den Weg der Gemeinschaft nach und diese alte Spielunterlage half mir dabei.

Das Cover von MORIA - THE DWARVEN CITY © 1984 Tolkien Enterprises

Moria - eine ganze Stadt in einem Heft

MORIA - THE DWARVEN CITY ist ein Buch (oder besser gesagt des Umfangs wegen ein dickes Heft), zu dem ich über die Jahre immer wieder griff, wenn ich an die Reise der Ringgemeinschaft oder an das standhafte und gedrungene Volk von Bartträgern und Bergbau treibenden Bierliebhabern dachte. Ich konnte mich für die Elben nie wirklich so begeistern wie für die Zwerge Es ist halt das Grummelige und Sture, die Liebe zum Stein und Handwerk und die Neigung unterirdisch zu leben die mich an dem kleinen Volk begeisterte. Deshalb ist mein MORIA - THE DWARVEN CITY Heft auch so abgegriffen und zerlesen. Ich erkenne das Ding aber unter Hundert anderen Drucken. Es ist halt "mein" MORIA.

Dabei wirkt die gut siebzig Seiten starke Spielunterlage vor Allem gegenüber heutigen Genreprodukten recht trist und im wahrsten Sinne des Wortes farblos. Lediglich vier Karten im Inneneinband sind koloriert. Die restlichen Seiten sind in schwarz-weiß gehalten. MORIA - THE DWARVEN CITY baut in seinen Kapiteln auf Übersicht und Information. Den Beginn macht eine bei den Ergänzungsbänden des M.E.R.S. Systems übliche Klärung allgemeiner Begriffe, Abkürzungen und Möglichkeiten, die vorliegenden statistischen Werte in andere Rollenspielsysteme zu übertragen. Bevor jedoch irgendein Wort über den Aufbau der ehemaligen zwergischen Stadt folgt, gibt es Informationen über den Landstrich und dessen Geschichte sowie eine Abhandlung über König Durins I. Ahnenlinie. Nur selten gibt es eine Zeichnung, die die zweispaltig gesetzten und kleingedruckten Textblöcke unterbricht. Wichtige zeitliche Abläufe oder Ahnenlinien werden mittels Diagramm verdeutlicht.

Eine liebevoll angefertigte Zeichnung aus MORIA - THE DWARVEN CITY © 1984 Tolkien Enterprises

Nach Kapiteln über die Struktur und allgemeinen Aufbau der Stadt und der Minen sowie über Morias späterer böser Bewohner, startet MORIA - THE DWARVEN CITY mit seiner eigentlichen Aufgabe, dem Aufbau der riesigen unterirdischen Stadt. Morias Layout liefert neben vielen Karten der einzelnen Ebenen auch Beschreibungen wichtiger Orte innerhalb des Berges, wie der Kammer von Mazarbul oder der endlosen Treppe. Immer wieder fallen jede Menge liebevoller Details in den Beschreibungen und Plänen des Heftes auf. Schematische Darstellungen von Fallen oder der Gestaltung von Zierelementen in Boden und Decken, um nur zwei Beispiele zu nennen, sind genauso vorhanden, wie ein Querschnitt des kompletten Berges. Zum Abschluss des Hefts gibt es mehrere Abenteuervorschläge für Spielleiter, die in unterschiedlichen Epochen der unterirdischen Stadt spielen. Auch Referenztabellen (bei dem Rollenspielsystem Rolemaster und seinen "kleinen Bruder" M.E.R.S. früher ein alltägliches Bild) und ein Glossar wurden nicht vergessen. Nach nur siebzig Seiten ist die "Reise" durch Khazad-dûm (zwergisch für Moria) vorbei.

Zu guter Letzt

Lange Zeit gab es für Tolkien fixierte Rollenspieler nur M.E.R.S., um ihre Abenteuersucht auf Mittelerde gemeinsam auszuleben. Mit jeder Menge Publikationen wurden die Fans erfreut, für die MORIA - THE DWARVEN CITY ein gutes Beispiel abgibt. Auch wurde das Rollenspielsystem irgendwann ins Deutsche übersetzt und erlebt Neuauflagen. Genauso wie die Lektüre Tolkiens, bot jeder Erweiterungsband des Spielsystems Unmengen an Daten und Informationen. Doch genau aus dieser Detailversessenheit entstand eine glaubwürdige, liebenswerte und manchmal hochgefährliche Welt in den Gedanken und Herzen der Spieler. Mittels des Rollenspielsystems M.E.R.S. wurde man ein selbständiger Teil von ihr. Man erlebte seine eigenen Geschichten, fernab von Leinwand und Computerbildschirm.

(v.l.n.r.) Das Cover von LÓRIEN, DAS GESPENST DER NORDMARKEN und der deutschen Zweitausgabe des Regelgrundbuches © 198619881993-95 Tolkien Enterprises

Der Kinostart von DER HERR DER RINGE - DIE GEFÄHRTEN und die damit verbundene Produktflut lieferte ein neues Rollenspielsystem des Decipher Verlages in Form von Grundbuch und Ergänzungsbänden, die die Designs der Filme nutzen durften. Doch man erlebte das neue Spiel nicht so wie durch den Vorläufer. Alles wirkte schneller, stromlinienförmiger aber auch angepasster an die monumentalen Szenen der Filmtrilogie. Ohne die großartige Wirkung der Filme schmälern zu wollen, verpuffte das Spiel im Nachstellen denkwürdiger Filmbilder, anstatt seine eigenen Abenteuer zu spinnen. Erst nach Jahren erschien mit DER EINE RING - ABENTEUER IN DER WILDNIS (ein eigener Artikel wird erscheinen, der sich mit dem Buch ausführlich beschäftigt) das erste eigenständige System für das Rollenspiel auf Mittelerde. Dabei verzichtet die durchdachte Neuerscheinung auf die Filmlizenz und die damit verbundenen Designs. Doch an den "kleinen Bruder" des Rolemaster-Spielsystems von früher denke ich immer wieder gerne zurück. Und wenn mich die Erinnerung packt, ist MORIA - THE DWARVEN CITY eine willkommene Wahl beim Griff ins Bücherregal.

AJ (Stand: 22.11.12)

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